27. Hilzinger Kunstausstellung 2013 mit Sonderausstellung Max-Peter Naeer

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Non finito

Max-Peter Näher malt eine aus der Erinnerung erzählte Welt in vielen Bildern


Günter Baumann

[…]
Prost, Max! Oben läuft die menschliche Fliege auf Glasplatten!!
Bewegung! Einheizen!
Portwein, schwarz etikettierter, her – Heidonc, en avant!
L‘homme masqué!!!!
Georges le Boeuf!!!!
Champion of the world!!!!
Der Knallspektakel!!
Das Banknotengeflüster!!
Hallooo!!!
Die Ermordung Jaurés!!
Die Explosion der Radrennbahn!!
Der sensationelle Wolkenkratzerbrand!!
Das neue Attentat der Telephonmänner!!
[…]
George Grosz, »Gesang an die Welt«
[…] den fixierten Sinn der Sätze zerschneiden... Lautverschiebungen
herbeiführen... gedankenlose Touristen des Worts einer Vibrationsmassage
unterziehen... Ein und Ausfahrten freihalten... DAS
WORT fällt... und mit ihm DAS BILD dessen, was es bezeichnet...
Durchbruch im grauen Raum…
William Burroughs, »Soft Machine«
Max-Peter Näher irritiert den Betrachter durch seine aleatorische
Malweise. Diese aus der Musik stammende Technik bzw.
Verwendung nicht zusammengehöriger Zufallselemente kam in
den 1950er Jahre auf, an deren Ende der Künstler sein Studium
in Karlsruhe begann, als Schüler des abstrakten Expressionisten
Herbert Kitzels, der sowohl figurativ wie ungegenständlich,
melancholisch wie arkadisch, artistisch wie jazzig, aus dem Grau
als Grundstimmung (»Hallesches Grau«) heraus arbeitete, mit
grandiosem Sensorium für die Farbe und unbedingtem Anspruch
ans eigene Tun. Näher greift auf, engagiert sich politisch, baut
um: seine Arbeitsstelle (Beurlaubung vom Schuldienst), seine
Arbeitsstätten (Landgasthof »Lamm« in Zainen, ehem. Kurhotel
Wilhelmshöhe). Näher beobachtet: Landschaften, Straßen, Büros,
Cafés, Köpfe, Figuren, Flaneure, Filme. Näher malt: begleitet vom
stetig wiederkehrenden Ruf vom Ende seines Metiers, der Malerei,
wobei er auf Vorzeichnungen verzichtet – ganz frei, ob sich
aus einem Zusammenspiel von Farben eine Figur oder ein Raum
entwickelt, oder ob sich eine konkrete Szene in einem Farbrausch
ins Nichts verwischt. Näher führt in die Irre: Figur ist auch nur Farbe,
aber Farbe hat auch immer Gestalt. »Es gibt den Maler«, zitiert
Näher in seiner 2011 erschienenen Monographie Pablo Picasso,
»der aus der Sonne einen gelben Fleck macht, aber es gibt auch
den, der mit Überlegung und Geschick aus einem gelben Fleck
eine Sonne macht.« Max-Peter Näher kann beides. Gleichzeitig,
alles im Sinn – und sei es das Nichts.
Der Traum vom Weltgedächtnis geistert wohl noch immer durch
die Zeit und webt am Buch des Lebens, das keiner mehr lesen
kann. Die These ist bewusst zwiespältig, zielt auf theosophische
Strömungen im 20. Jahrhundert hin, denen die Zerrissenheit des
modernen Menschen entgegensteht. »Erinnerungen durchdrangen
sein sinnendes Hirn«, liest man in James Joyces Jahrhundertroman
»Ulysses«: So lapidar das klingt, ist der Satz als
Kurzformel der Romanhandlung zu sehen, er spekuliert mit der
theosophischen Akasha-Chronik (»Abgelegt im Gedächtnis der
Natur mitsamt ihrem Spielzeug«), die aber auch nur ein Baustein
im großen (literarischen) Werk ist – und bezogen auf die Form des
Romans deutet sich an, wie dies angesichts einer Handlungsdauer
von nur einem Tag aussehen könnte: eine Montage. Das
Gedächtnis packt diese ganzen Einzelheiten zueinander, wie man
einst Weltgebäude errichtete, doch bleiben die Bestrebungen
fragmentarisch, auch im Hinblick auf das Ganze. Wann ist es
erreicht? Wir sind in der Lage, alles bis ins Kleinste zu teilen und
aufs Größte zu erweitern. Doch über die Gewissheit wachsender
Entgrenzung, sprich: das beliebig fortzusetzen zu können,
geriet das Ganze zwangsläufig aus dem Blick. Die Künste haben
diesen Gedanken immer wieder gern aufgegriffen, ein Kernthema
der Moderne. In der Kunst vermag die abstrakte Richtung eine
naheliegende Antwort zu geben, während im gegenständlichen
Lager sur-reale oder hyper-realistische Positionen auf das entgrenzte
Ganze reagieren. In der Literatur befindet man sich über die Sprache und die Schrift zwar naturgemäß schon in einem
abstrakten System – die Sprache kann ja nicht wie ihr vorgestellter
Gegenstand aussehen (was in der Malerei problemlos möglich
wäre) –, doch vermochte die Erzählung ein Bild der Realität zu
vermitteln, die direkt nichts gemein hatte mit dem Vor-Bild, ihm
aber nahekam mittels Collage, Montage und Simultanität. Es gibt
Künstler, die sich in diesen literarischen Gefilden bewegen und
eine Bildsprache finden, die dem entspricht – Max-Peter Näher
gehört hier dazu.
Lange Rede, kurzer Sinn: Die Welt ist in einem einzigen Bild nicht
mehr zu fassen, ihr Wissen hat sich den Kapazitäten des Gehirns
entzogen, das sinnend von Erinnerungen durchdrungen ist,
aber vor einem Berg von Informationen kapitulieren muss. Einst
genügte es, die Einheit von Ort, Zeit und Handlung zu wahren,
die wir allesamt nicht mehr überschauen. In der Literatur ist das
augenfälliger als in der Kunst. Joyce montiert unendliche Denkbilder
zusammen, um gerademal einen Tag zu begreifen; Dos Pasos
collagiert jenseits einer Handlung Eindrücke aneinander, um etwa
in seinem Meisterwerk »Manhattan Transfer« der Stimmung einer
Metropole habhaft zu werden; Arno Schmidt zertrümmert die
Sprache – besser: erfindet sie regelwidrig neu –, wenn es darum
geht, simultane Eindrücke zu verarbeiten. Letzterer macht auch
deutlich, dass dies kein Spezifikum der großen weiten Welt ist:
»was heißt schon New York? Großstadt ist Großstadt; ich war oft
genug in Hannover«, heißt es in »Trommler beim Zaren«, und man
mag hinzufügen: Er war auch in Bargfeld.
Der in Friedrichshafen am Bodensee geborene Max-Peter Näher
war in Karlsruhe und Wien, aber auch in Kreenried, Zainen, auf
der Wilhelmshöhe in Ettlingen. Und hatte die Welt vor Augen, die
er in frühen Jahren in kräftigen Farben fast plakativ einfing (Landschaft),
in wimmelbildartigen Zeichnungen umschrieb (Leben auf
dem Land, Zirkus) oder karikierend entlarvte (politisches Bildnis,
Gesellschaftsbild).
Seine eigene Bildsprache fand er über die genannten, eher literarischen
Mittel der Collage, Montage und über das Simultanbild.
Freilich gab es das auch in der Kunst, schon im Mittelalter. Doch
waren die Leidens- und Kreuzwege immer auch linear lesen,
doch immerhin: Das erzählerische Moment war auch in der Kunst
angelegt. Nur brauchte es eine lange Zeit bis ins 20. Jahrhundert,
bis die Literatur in willkürlichen Verfahren wie Streams of
Consciousness, Cut-ups oder Cross readings Überblendungen
von subjektiven Ein-Bildungen und Fremdeinflüssen ermöglichten.
Die Kunst reagierte mit dadaistischen Performances oder
Fotoromanen darauf, und sie zelebrierte im Anschluss an Willi
Baumeister das Unbekannte, das insbesondere die Dimensionen
der Malerei deutlich erweiterte. Archaische Zeichen und Schöpfungen
fremder Kulturen spielen genauso in die Kunst hinein, wie
Alltagsbeobachtungen in den Straßen, aus der Werbung oder
Zeitschriften. Noch bevor wir sagen könnten, ob sich im Werk von
Max-Peter Näher nun die Figuration aus der Abstraktion heraus
Bahn bricht oder ob die Abstraktion im Betrachtungsprozess
plötzlich Gestalt annimmt, sind wir längst involviert: Da man schon
ahnt, dass wir in der Wahrnehmung die gewohnten Parameter
verlassen, beginnen die Augen die Bilder Nähers nach Spuren zu
sondieren, die das Gehirn als Erfahrungsschatz gespeichert hat,
sprich: einerseits werden Farbflecken zu Gesichtern, andrerseits
versinken dieselben Flecken in pure Farbfelder im Hinblick auf
hineincollagierte Fotos, die wiederum nur Ausschnitte eines Realismus
zeigen, der zuweilen ins Surreale verfremdet ist. Max Ernst
hat dies einst zum System gemacht, und schon Leonardo da
Vinci empfahl den Blick auf Wände, bis die Phantasie uns ganze
Wolkenbilder vorgaukelt. Was wie ein Spiel daher kommt, rührt
an ein hochkomplexes Rezeptionsmuster, das der Betrachter nur
individuell ergründen kann. Wo endet die Gegenständlichkeit,
wo beginnt die Abstraktion? Entsteht ein Bild erst im Gehirn,
oder ist es schon vor der sensuellen Aufnahme vorhanden? Wie
wirklich ist die Bilderfindung, und wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Die Frage drängt sich auf: In seinen jüngeren Bildserien nimmt
die Fotografie einen noch prominenteren Platz ein als in den
früheren Arbeiten; zuweilen macht Max-Peter Näher auch Fotos
von Fernsehbildern – bevorzugt Schwarzweißaufnahmen. Durch
Übermalung und Verfremdung der entwickelten bzw. ausgedruckten
Bilder erschafft er eine eigene Realität jenseits der greifbaren
Natur.Schatten, die über die Leinwand zu huschen scheinen, sich dann
aber doch als Schemen eines Filmstills erweisen, die ähnlich in
anderen Bildern auch auftreten, davor Menschen in seltsamen
Szenerien: Bereits in den späten 1970er Jahren und Anfang der
1980er Jahre präsentiert Max-Peter Näher surreale Handlungen.
Keine Frage, er erzählt Geschichten, die wir in groben Zügen und
hautnah miterleben. Aber er setzt sich wohl unterm Malen bewusst
unter Druck, um in rasentem Tempo die Regie zu erhalten.
Eine große Geste eines im Sessel sitzenden Mannes etwa, mit gepunkteter
Krawatte, zeigt uns, dass er mit jemandem redet: Wer
von den Akteuren wird jener »Hans A.« sein, der im Titelsteht?
Hinter ihm im Fenster stehen drei Menschen mit Hut, die das
Geschehen offenbar, unter einem Baum stehend, mit ansehen.
Der sitzende Mann ist allein durch eine Binnenzeichnung etwas
genauer erfasst, ansonsten ist er flach wie eine Kulissenfigur, die
komplizenhaft als Freund der im Fenster stehenden, dubiosen
Typen gedeutet werden könnte. Und während der Betrachter
sinnieren mag, was da vor seinen Augen abgeht, wird er gewahr,
dass er vielleicht zur Szene gehört als derjenige, der gesprächsweise
angesprochen wird. Und er wird auch gewahr, dass die
Vorhänge, die in pastosen dicken Pinselstrichen das obere linke
Bildviertel einnehmen, wie auch der Tisch, der sich gegen eine
mathematische Perspektive wehrt und regelrecht ins Bild drängt:
darauf ein eingeklebter Zeitungsausschnitt mit einer politischen
Tagesmeldung zur Parteienwelt. Souverän führt Näher den
Pinsel, gaukelt uns einen Inhalt, einen Plot vor, zieht uns sogar ins
Geschehen rein, aber die Gegenständlichkeit ist in Auflösung begriffen,
die Handlung zu sehr in der Fläche fixiert, sodass das Bild
zu einer Metapher seiner selbst wird. Die in Vorder-, Mittel- und
Hintergrund angelegte Komposition lässt uns an eine Bühnenaufführung
denken oder an ein Plakat mit dem Motiv einer Szene,
klar. Aber das Linien- und Farbenspiel macht Raster sichtbar,
verrät formale Spielereien (das Fensterkreuz wird als Kreuzzeichen
auf dem Zeitungsausriss zitiert), Schablonenelemente (die Huttypen
könnten auch aus der Zeitung ausgeschnitten sein). Sind das
überhaupt Fenster? Vorhänge und belaubter Zweig neigen zur
Ungegenständlichkeit. Alles nur Schall und Rauch? Das Ganze
nur Malerei? Sprich: eben Farbe (samt Nicht-Farbe) auf Hartfaser?
Max-Peter Näher treibt das Spiel mit der Wirklichkeit noch weiter:
eine Fotoleinwand zeigt einen Filmstill. Diesmal sind die beiden
Protagonisten gefilmt, also echt: Auch sie tragen Hut, kommunizieren
miteinander – stehend der Ältere, ein jüngerer Mann
schreitet auf ihn zu, den Mund geöffnet, er spricht. Was ist echt?
Notgedrungen sind die dargestellten Menschen auch real, mit viel
Aufwand könnten wir den zitierten Film ausmachen, die Szene,
eine fiktive Geschichte – und doch auch Schauspieler, die einen
wirklichen Namen haben. Aber Näher hat die Darstellung übermalt
und somit eine neue Wirklichkeit geschaffen, die uns einmal
deutlich macht, dass auch der Filmausschnitt fingiert ist, ganz zu
schweigen von der gestischen Malerei, die das Bild ins Abstrakte
verfremdet. Der Maler bedient sich der sogenannten neuen oder
Massenmedien: Filmbilder, Fotos aus Zeitschriften, Zeitungsausschnitten,
sucht auch nach Motiven im Internet, um sie ins
Gemälde zu integrieren – nicht jedoch, um eine vorgegebene
Komposition zu vervollkommnen oder ein Thema abzuschließen.
Es geht Näher vielmehr um die Gleichzeitigkeit von Handlungssträngen,
die erst durch farbliche – zuweilen auch schwarz-weiße
– und inhaltliche Assoziationen die (immer auch nur) Teilansicht
auf ein Ganzes freigeben. Die dargestellten Szenen mögen wie
in dem beschriebenen Bild »ohne Titel« auf einer Fotoleinwand
verewigt sein, oder sie kommen ganz ohne mediale Unterstützung
aus wie im Bild »Menge«: Auf einer Straße hasten Menschen
aneinander vorbei, jeder für sich allein. Dem Maler genügen ein
paar kräftige Pinselstriche, um eine figurative Gruppe oder besser
gesagt: eine zufällige Ansammlung von Menschen darzustellen.
Das Werk kulminiert in einer Hommage an die Stadt mit ihren
Büros, Bars und Restaurants, Wohn- und anderen Räumen,
geizt nicht mit intimen Blicken ins Badezimmer. Die flüchtige
Malweise lenkt den Betrachterblick mal auf Farbverläufe, die sich
zum figurativen Detail ergänzen lassen, oder sie lässt ihn ziellos
über die Leinwand huschen. Das ist keinesfalls der Beliebigkeit
geschuldet, sondern basiert auf wahrnehmungspsychologischen
Prozessen: Das menschliche Auge kann nur selektiv Bilder ans
Gehirn weitergeben, und da, wo der Fokus auf ein Detail gerichtet
ist (man denke an das Bild »Marlene«), verwischt das Umfeld ins
Ungewisse. Zudem nehmen wir, selbst in Bewegung oder angesichts
sich bewegender Personen oder Gegenstände, meist nur
Schemenhaftes oder Fragmentiertes wahr.
Die jüngsten Bildserien forcieren diese Erkenntnisse: Die Motive
in den großformatigen Gemälden lösen sich in einer gesteigerten
Farbdiffusion auf, dass man auf den ersten Blick auf einen
scheinbar entschieden abstrakten Expressionismus stößt. Erst im
zwangsweise sprunghaften Betrachtungsvorgang bleibt man bei
fotografischen Details hängen, aus denen sich plötzlich Farbschlieren
und -felder weiterspinnen lassen, um einem schönen
Frauenantlitz ein hübsches Kleid anzuhängen oder um ein
Farbchaos in der Fläche in eine Höhle oder Kellertreppe münden
zu lassen, aus der ein Mann wie in eine räumlich wirkende
Schleuse tritt. In kleineren Papierarbeiten wählt Max-Peter Näher
eine kopierte Schwarzweiß-Reproduktion aus einem Fernsehbild
und übermalt sie mit jeweils anderem Personal und in je anderem
Ambiente. Der Maler Max-Peter Näher schickt sich und den
Betrachter seiner Bilder in ein Abenteuer des Sehens. Gegen
die Sehgewohnheiten konfrontiert er uns mit halb Erinnertem,
halb Vergessenem, Flüchtigem und Verdrängtem, dem allzusehr
Bekannten und dem großen Unbekannten – eben mit alldem,
was uns jeden Tag begegnet. Jedes Bild bietet zum einen eine
Momentaufnahme, zum anderen ein simultanes Suchbild. Es mag
sein, dass der Betrachter auf der Suche nach der im Bild – oder
doch in der Welt? – verlorenen Zeit auf seine eigenen Gedächtnislücken
stößt, die Nähers Werk so vertraut erscheinen lassen.
Die farbsinfonischen Sinnesreize, überraschenden Déjà-vu-
Erlebnisse und die vergebliche Hoffnung auf eine Gesamtschau
(aller gemalter Bilder), die uns in das einzelne Bild ziehen, macht
uns unser eigenes Sehen einerseits und unser Scheiten in der
Wahrnehmung der Welt aufs Neue oder auch anders – und es ist
nicht auszuschließen: aufs Wunderbarste – bewusst.

 
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